„An erster Stelle müssen die Bedürfnisse der Menschen stehen“ – Redebeitrag des Anarchistischen Plenums Stuttgart am 1. Mai 1992

Wir haben uns daran gewöhnt, in einer Welt zu leben, die wir nicht verstehen und deren Lauf wir nicht bestimmen. Wir haben uns daran gewöhnt, ZuschauerInnen unserer eigenen Geschichte zu sein. Wir haben uns daran gewöhnt, auf die Verwirklichung unserer Träume zu verzichten. Wir haben uns daran gewöhnt, uns machtlos zu fühlen und auf bessere Zeiten zu warten, anstatt aktiv in die herrschenden Verhältnisse einzugreifen. Wir haben uns daran gewöhnt, einander als Fremde zu begegnen und miteinander um einen Platz an der Sonne zu konkurrieren. Wir haben uns daran gewöhnt, unsere Bedürfnisse bis zum Feierabend hinauszuschieben und uns dann aus dem Supermarkt, der kapitalistischen Konsumwelt für teures Geld eine Ersatzbefriedigung zu kaufen. Wir haben uns daran gewöhnt, für fremde Interessen und fremden Reichtum zu arbeiten und schon dankbar zu sein, wenn wir überhaupt eine Arbeit haben. Wir haben uns daran gewöhnt, die Interessen der Profitwirtschaft über unsere eigenen zu stellen, als Soldaten ihre Kriege zu führen, ihr Recht und ihre Ordnung wichtiger zu nehmen als unser Gefühl von Gerechtigkeit.

Sicher, an all das haben wir uns NICHT gewöhnt, denn sonst wären wir ja jetzt nicht zusammen hier, am 1. Mai! Aber wir alle kennen diese Fremdheit, diesen Druck der Verhältnisse und auch unsere Unzufriedenheit und Wut. Und es ist kein Zufall, dass die Arbeitgeberseite neuerdings den Slogan verbreitet „SÄG’ NICHT AM AST, AUF DEM WIR ALLE SITZEN“. Unsere Sache aber ist es, genau diesen Ast endgültig durchzusägen, denn es ist der Ast der Lohnarbeit, der totalen Vermarktung menschlicher Bedürfnisse, der Anhäufung von Reichtum auf Kosten der sog. Dritten Welt, einer Lebensweise von Entfremdung und Umweltvernichtung. Lohnarbeit ist und bleibt Arbeit für fremde Interessen, für Profite, die nicht der Mehrheit der Menschen zugute kommen. Der weltweite Kampf um die Verteilung des Reichtums, von dem nur die reichen Schichten der nördlichen Industrieländer profitieren, fordert mit der Abschaffung des Kapitalismus nicht nur das Ende der materiellen Ausbeutung, sondern immer auch die Aufhebung der Entfremdung, das Recht, über Form und Inhalt der eigenen Arbeit selbst zu bestimmen. Das Märchen, wir säßen alle in einem Boot, soll eine Harmonie vorgaukeln, die in den ausgebeuteten Ländern der sog. Dritten Welt und in den Arbeitskämpfen hier bei uns ihr wahres Gesicht zeigt. Den Gegensatz zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung sehen wir momentan ganz krass am Boom der sog. Zeitarbeitsfirmen, die besser Sklavenvermietungen genannt werden sollten. Hier wird mit romantischen und verharmlosenden Darstellungen für die Preisgabe wichtiger ArbeiterInnenrechte geworben; der bedingungslose Verkauf der eigenen Arbeitskraft als Fortschritt des Arbeitslebens schmackhaft gemacht. ZeitarbeiterInnen unterstehen nicht mehr der Firma, in der sie eingesetzt werden, sondern direkt der Verleihfirma. Dadurch wird eine Solidarisierung und Organisierung mit den Festangestellten verhindert. So dient die Leiharbeit nicht nur als jederzeit verfügbare Arbeitskraft, sondern auch als Mittel der Lohndrückerei und Spaltung. Der Verkauf der eigenen Arbeitskraft beginnt mit einem Fragebogen, in dem nach Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft, Überstunden, Schwangerschaft, Krankheiten und Fähigkeiten gefragt wird. Das Modewort „Flexibilisierung“ bedeutet in Wirklichkeit die totale Verfügbarkeit der einzelnen Menschen bis hin zu Eingriffen, in deren Person und Persönlichkeit. Dort, wo sich Festangestellte mit Mühe und Not gegen miese Arbeitsbedingungen, Unterbezahlung und die Ausbeutung insgesamt zur Wehr setzen, empfinden sie verstärkt LeiharbeiterInnen, Angestellt von Subunternehmen, JobberInnen und AusländerInnen als Konkurrenz. Diese Konkurrenz wird aber bewusst geschaffen, um die gemeinsamen Interessen der Arbeitenden gegeneinander auszuspielen. Die Entfremdung vom Produkt, von den Menschen neben uns und von uns selbst setzt sich nach Verlassen des Arbeitsplatzes weiter fort. Ist uns das Gefühl von Unmut, von Fremdbestimmung und Sinnlosigkeit während der Produktion zumindest annähernd bewusst, so schwebt darüber hinaus über unseren Köpfen ein abstraktes, schwer einzuordnendes Gefühl der Kälte, der Leere und der Anonymität. Die sog. „Freizeit“ dient zu nichts anderem als zur Wiederherstellung unserer Arbeitskraft, als profitträchtiger Ersatz für ein ungelebtes Leben. Jedes menschliche Bedürfnis zeigt sich uns als Ware, die gehandelt und vermarktet wird.

Auf der Suche nach all dem, was uns an Mitmenschlichkeit, an Erlebnis und Lust geraubt worden ist, irren wir durch die toten Städte der Warengesellschaft, wo wir in den Supermärkten der Konsumindustrie unser Geld auf den Kopf hauen, genau das Geld, für dessen Erarbeitung wir unsere Selbstbestimmung täglich aufs neue verkaufen. Einfachste menschliche Bedürfnisse wie Wohnen sind einem brutalen Markt unterworfen; der Mangel an zwischenmenschlichen und nachbarschaftlichen Beziehungen wird ersetzt durch die scheinbare Gemeinschaft der immer gleichen Fernsehsendungen, die durch die Wohnzimmer flimmern. Viele empfinden gleichzeitig einen Verlust an Individualität in der Massengesellschaft und ihre totale Vereinzelung und suchen einen Ausweg im Kauf extravaganter Konsumgüter und lächerlicher Statussymbole. Die Suche nach Identität und Lebenssinn bringt eine ganze Industrie neuer Religionen und Ideologien, New Age und Nationalismus hervor. Der direkte Bezug zu Erholung und Naturerlebnis verzerrt sich zur Flucht in die Pseudoparadiese des Massentourismus, wo in immer kürzerer Zeit immer intensivere Ersatzerlebnisse gesucht werden. Sofern Mensch sie sich leisten kann. Der Boom der Sexindustrie macht in besonders extremer Weise den Warencharakter aller Lebensbereiche und die Verschärfung des vorhandenen Sexismus durch den Kapitalismus deutlich, eine nackte Arbeitsteilung, die als scheinbares Glück das Funktionieren der männlichen Arbeitskraft aufrechterhält. Der Konsumrausch in den reichen Industrieländern ist für uns kein Ausdruck von Überfluss, sondern von totaler Verarmung, von Mangel an wirklichem Leben und wirklicher Selbstbestimmung.

Für uns als AnarchistInnen geht es daher auch um die Rückeroberung der Leidenschaft, des Lebens, der Lust und des Genusses aus den Krallen marktwirtschaftlicher Zwänge. An erster Stelle müssen wieder die Bedürfnisse der Menschen stehen. Die Bedürfnisse aller Menschen, anstatt der Machtgelüste der regierenden Minderheit. Um den Ast, auf dem die herrschende Ordnung momentan noch sitzt, endlich abzusägen, müssen wir in allen Bereichen reale Gegenmacht von unten aufbauen. Es geht darum, nicht ein Stück vom Kuchen, sondern die ganze Bäckerei zurückzuerobern. Hausbesetzungen und gemeinsame Wohnprojekte sind Beispiele, wie wir uns Wohnraum erkämpfen können, dessen Finanzierung nicht unsere ganze Zeit und Kraft in Anspruch nimmt, wie wir in selbstbestimmten Strukturen unseren Alltag wieder nach den Grundbedürfnissen ausrichten.

Es wird Zeit, dass im Arbeitsleben die wirklich Betroffenen ihre eigenen Forderungen kollektiv durchsetzen und z. B. in Sabotage, wilden Streiks und Fabrikbesetzungen zum Ausdruck bringen. Es wird Zeit, dass sich die Arbeitskämpfe wieder gegen die systemstützenden Befriedigungsstrategien des DGBs durchsetzen. Es wird Zeit, dass radikale Betriebsgruppen und Zusammenschlüsse, die ohne Führer, Stellvertreter und Vermittler auskommen, massiv in die herrschende Ordnung eingreifen. Es wird Zeit, dass Leidenschaft und Kampf, Genuss und Revolution endlich miteinander vereinigt werden.

Anarchistisches Plenum Stuttgart

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