Der 1. Mai 1993 und die Anarchist:innen und Anarcho-Syndikalist:innen in Stuttgart

Der 1. Mai 1993 stand unter geänderten Vorzeichen. In die Stuttgarter anarchistische Landschaft war viel Bewegung gekommen. Von dem einst stark ausgeprägten Zusammengehörigkeitsgefühl und der dadurch verstärkten Offensivhaltung und positiven Ausstrahlung war aufgrund persönlicher Abneigungen und politischer Unterschiede nicht mehr viel geblieben. Zusätzlich hatten viele aktive GenossInnen die Stadt verlassen und wählten andere Städte zum Leben.

Dieses Plakat wurde auch in Stuttgart verbreitet

Das Anarchistische Plenum ließ die Vorstellung eines eigenständigen anarchistischen Blocks auf der revolutionären Mai-Demo fallen. An deren Vorbereitungstreffen beteiligten sich neben den wenigen Übriggebliebenen des Anarchistischen Plenums, die aus dem zwischenzeitlich schon wieder aufgelösten Schwarzen Aufbruch hervorgegangene Gruppe „einige AnarchistInnen“ und die FAU. Bereits im Dezember 1992 wurde das erste Treffen zur Vorbereitung und Organisierung der Demonstration durchgeführt. Eine längere Vorbereitungsperiode sollte helfen, eine bessere Koordinierung zu ermöglichen und gleichfalls den Raum für politische und inhaltliche Diskussionen zwischen den beteiligten Gruppen bieten. In der Einladung zu diesem ersten Treffen analysierte die in der Demo-Vorbereitung stark involvierte Autonome Gruppe 1. Mai die gesellschaftliche Entwicklung der BRD und offenbarte eine eigene Perspektivlosigkeit, wie gegen die kapitalistischen Verhältnisse vorzugehen, und welche Perspektive angebracht sei. Wörtlich schrieben sie: „Weil wir als Linke im Moment keine eindeutigen Antworten auf diese Verhältnisse haben, müssen wir uns über verschiedene Vorstellungen und Perspektiven auseinandersetzen.“ Hintergrund dieser Erklärung war der Zusammenbruch des sog. „real-sozialistischen Modells“ in Osteuropa und der Sowjetunion, das neben den Mitgliedern der DKP auch vielen Autonomen und Antiimps als positiver Bezugspunkt und Alternative galt.

Auf dem ersten Vorbereitungsplenum kritisierte die FAU diese Aussage und machte deutlich, dass sie sich nicht unter diese linke Perspektivlosigkeit subsumieren lasse. Schließlich waren die staatskapitalistischen stalinistischen Systeme Osteuropas niemals eine Alternative für sie, und deren Zusammenbruch wurde freudig begrüßt. Das daraufhin geschriebene Protokoll über dieses erste Plenum enthielt eine tendenziöse, verächtliche Darstellung dieses Sachverhalts, was die FAU veranlasste, eine kurze Stellungnahme dazu zu schreiben. „Im Protokoll zum 1. Vorbereitungstreffen für eine revolutionäre 1. Mai Demo 1993 wird im Zusammenhang mit einer von der Autonomen Gruppe 1. Mai gemachten Feststellung, eine Kritik der FAU verzerrt dargestellt. Die AG 1. Mai schreibt: ‚Die FAU betont, dass sie als AnarchistInnen sehr wohl Antworten hätten und Lösungsvorschläge, die sie nach wie vor für richtig und gültig halten, wenn es dem Rest der Linken anders ginge, so sei das deren Problem.’ Dazu stellen wir fest: Unsere Kritik richtete sich gegen eine Vereinnahmung unter einen solch schwammigen Begriff wie der ‚Linken’. Wenngleich die leninistische Linke in einer, durch den Zusammenbruch des Staatskapitalismus ausgelösten Krise steckt, berechtigt dies nicht dazu, die eigene Perspektivlosigkeit auf andere Gruppen zu übertragen. Wir finden es unmöglich, sämtliche libertären und anarchistischen Gruppen, bewusst oder unbewusst, unter diese Perspektivlosigkeit zu subsumieren. Unsere Antwort sehen wir im anarchosyndikalistischen Weg der Selbstorganisation und Selbstverwaltung, dem Aufbau unabhängiger Gewerkschaften als einem Weg zu einer klassenlosen Gesellschaft. Das Protokoll vermittelt gleichzeitig einen arroganten, überheblichen und dogmatischen Eindruck über die FAU, welchen wir sonst nur von religiösen Glaubensgemeinschaften her kennen. Wir sind immer bereit, mit jeder und jedem über unsere Vorstellungen zu diskutieren und uns mit anderen Auffassungen auseinanderzusetzen. In diesem Sinne, FAU-IAA Ortsgruppe Stuttgart, Januar 1993.“

Das Bündnis repräsentierte dieselbe Bandbreite an unterschiedlichen Gruppen wie im Jahr zuvor. Als bekannt wurde, dass der DGB abermals keine eigenständige Demonstration veranstalten wird und nur eine Kundgebung abhalten werde, gab es von verschiedenen Vertretern kommunistischer Gruppen den Vorschlag, diese DGB-Kundgebung als Zielort für die revolutionäre Mai-Demonstration zu nehmen. Dieses Ansinnen wurde mit einem gesunden Selbstbewusstsein abgelehnt. Überwiegende Meinung war, eine eigenständige Demonstration mit eigenen Inhalten und einem selbstorganisierten anschließenden Fest zu veranstalten. Von Seiten der Maoisten der MLPD wurde erklärt, dass es Überlegungen der „Gewerkschaftsbasis“ gebe, eine eigene Demonstration zu organisieren. Diese fand dann auch statt. An ihr beteiligten sich die sog. „Gewerkschaftslinken“, DKPler, MLPDler, etc. Aus diesem Spektrum wurde im Vorfeld eine Unterschriftenliste erstellt, die in den Betrieben und den Gewerkschaften ÖTV, IG Medien (beide heute zu Verdi zwangsvereint) und IG Metall verteilt wurde und den DGB aufforderte, eine eigenständige 1. Mai Demonstration zu organisieren. Doch der so unterwürfig Angebetete erhörte das Werben nicht und beharrte ausschließlich auf einer Kundgebung. So organisierte dieses Spektrum (das die Absage des DGB ohnehin erwartet hatte, und dies auch ohne Bedenken von sich aus zugab) eine eigenständige Demonstration. War noch im Vorjahr genau von denselben Personen argumentiert worden, eine zu frühe Uhrzeit würde zum Fernbleiben der DGB-Gewerkschafter führen, so setzten sie ihre Anfangszeit nun auf 9.00 Uhr fest, um pünktlich zu Beginn der DGB-Kundgebung dort vor Ort zu sein. Den vom Bündnis gemachten Vorschlag, eine gemeinsame Demonstration zu machen, lehnten sie entschieden ab. Das Bündnis hätte eine „gewerkschaftsfeindliche Haltung“.

Es spricht für die Borniertheit und den ideologischen Starrsinn dieser Personen, „Gewerkschaft“ mit dem DGB gleichzusetzen. Dieser sozialpartnerschaftliche Bremsklotz am Bein der rudimentären ArbeiterInnenbewegung wird zu Recht seit vielen Jahren ob seiner undemokratischen, unkämpferischen und systemimmanenten Politik kritisiert. Zudem gibt es Alternativen zu ihm und seinem Alleinvertretungsanspruch. Die FAU ist eine davon. In ihr bestimmen die Lohnabhängigen den Weg der Gewerkschaft. Gewerkschaftsbonzen wie der DGB hat sie nicht. Interessant war auch die Diskussion um einen Titel für die revolutionäre Mai-Demonstration. Bevor sich schließlich auf das wenig aussagende Motto: „Heraus zum revolutionären 1. Mai – Hoch die Internationale Solidarität“ geeinigt wurde, gab es mehrere Vorschläge, darunter den vom Anarchistischen Plenum, welches das Motto „Nie wieder Arbeit“ vorschlug und als Begründung ausführlich aus dem Vorwort des Buches „Die Eigentumsbestie“ von Johann Most zitierte. U.a. stand zu lesen: „Um die angepriesenen Dinge zu besitzen, unterwirft sich der Mensch der Lohnarbeit und nimmt in Kauf, ein Drittel seiner Zeit durch Arbeit zu vergeuden, um damit die übrigen zwei Drittel zu verpfuschen, die nötig sind, um sich von der Arbeit zu erholen…Nichts wird uns aber von dem zurückgegeben, worauf wir durch die Arbeit verzichten. Es gibt keine Wiedergutmachung für die verlorene Zeit der Arbeit. Das Elend des Konsums wird als Entschädigung angeboten und enthält doch nichts anderes als den Konsum des Elends…Nur die Revolte kann die Sehnsucht des Menschen nach emanzipativer Selbstverwirklichung befriedigen.“ Dieses Motto wurde abgelehnt, ebenso wie der Vorschlag der FAU, die den Spruch „Für Selbstbestimmung und selbstverwaltetes Leben und Arbeiten – Klassenkampf statt Sozialpartnerschaft“ einbrachte. Die Autonome Gruppe 1. Mai kritisierte daran, dass es sich dabei um das „politische Programm der FAU“ handeln würde und daher keine gemeinsame Basis sein könnte. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass die Autonome Gruppe 1. Mai der Selbstbestimmung und einem selbstverwalteten Leben und Arbeiten nichts abgewinnen konnte. In dieser Ablehnung scheint die marxistische Auffassung der Diktatur des Proletariats durch, die den Arbeitern weder zutraut, selbständig die Revolution zu machen, noch das eigene Leben regeln zu können, und die deswegen der führenden Hand einer kommunistischen Partei bedürfen. Also alles wie gehabt: Fremdbestimmung der Menschen durch eine Autorität, und Bosse, die über den Arbeitsalltag bestimmen. Das ist alles andere als eine revolutionäre Position.

Es beteiligten sich dann etwas weniger Menschen an der revolutionären 1. Mai Demo als im Vorjahr, aber immer noch deutlich mehr als an der Kundgebung des DGB, inklusive der Demo seines Fan-Clubs ewiggestriger Kommunisten und so genannter Gewerkschaftslinker. Die anarchistischen Gruppen liefen nicht mehr gemeinsam, sondern über den Demonstrationszug verteilt. Die Gruppe der FAU umfasste ca. 40 Personen. Die ASJ trat als solche nicht mehr in Erscheinung. Am Karlsplatz gab es einen Redebeitrag der Gruppe „einige AnarchistInnen“ zum Begriff der Arbeit, und am Marienplatz sprach die FAU. In ihrem Redebeitrag ging sie auf die Themen Leiharbeit-Konkurrenz, Kurzarbeit, Teilzeitarbeit, Erwerbslosigkeit, Rassismus und Sexismus am Arbeitsplatz ein und machte Vorschläge, wie dem mit einer revolutionären Perspektive zu begegnen ist. Die Demonstration endete am Heslacher Erwin Schöttle-Platz, wo im Anschluss das revolutionäre Mai-Fest begann.

Nach dem Aufbruch der Jahre 1991 und 1992 war das Jahr 1993 ein Rückschritt für die anarchistische Bewegung Stuttgarts. Die kollektive Stärke, die (auch) von der gemeinsamen Aktion der verschiedenen anarchistischen Gruppen am 1. Mai ausging, konnte nicht aufrechterhalten werden. Und weder die FAU noch die anderen libertären Gruppen waren in der Lage, den Verzicht auf einen eigenständigen gemeinsamen Block auch nur annähernd numerisch auszugleichen. 1991 – und vor allem der breit beworbene Anarchistische Block 1992 war ein kurzes, starkes Aufleuchten einer freiheitlichen Perspektive zwischen all den Gruppen und Organisationen der autoritären Linken und des staatstragenden Reformismus. Schon bei der Diskussion um den Anarchistischen Block 1992 und das eigenständige Fest war aber zu sehen, dass dieses eigene Auftreten nicht für alle aus den libertären Gruppen von Bedeutung war. Dass sich manche lieber in der Subkultur einigelten und von der „Außenwelt“ abkapselten, war schon bei der Trennung einiger GenossInnen von der ASJ zu sehen. Unterschiedliche gesellschaftliche Analysen, Vorstellungen und Strategien kristallisierten sich deutlich heraus.

Deutlich festzustellen war auch das Fehlen vieler bislang Aktiver, die die Stadt verlassen hatten. Bewegung wird eben von Individuen gemacht, die in der gemeinsamen Aktion fruchtbar zusammenwirken. Sind diese an einem anderen Ort, kommt es vor, dass bislang wichtige Themen nicht mehr aufgegriffen werden und organisatorische Dinge aus zeitlichen Gründen oder aus Desinteresse vernachlässigt werden. Eine Binsenweisheit, die sich an einem „Großereignis“ wie dem 1. Mai deutlich zeigte.

Die anarchistische Stärke zu Beginn der 90er Jahre auf den revolutionären 1. Mai Demos in Stuttgart wurde bis heute nicht mehr erreicht.

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