Der revolutionäre 1.Mai 1992 in Stuttgart und die Anarchist:innen und Anarcho-Syndikalist:innen

Der 1. Mai 1992 vereinte in Stuttgart 1.700 Menschen in der revolutionären Demonstration, welche unter dem Motto „Für die klassenlose Gesellschaft! Es lebe der revolutionäre 1. Mai!“ stand. Damit war er deutlich besser besucht als die vom DGB veranstaltete Kundgebung auf dem Marktplatz mit ihrem „Markt der Möglichkeiten“. Der anarchistische Block bildete sich aus 350 Menschen und war der lautstärkste und sangesfreudigste Teil des Aufzuges. Er lief, entgegen der gemachten Absprachen, die ihn in der Mitte des Aufzugs gehend festlegten, am Ende der Demonstration und führte zahlreiche schwarz-rote und schwarze Fahnen mit sich. Die ASJ war mit ihrem „Classwar“-Transparent vertreten und die FAU mit auffälligen Fahnen und einem großen schwarz-roten Transparent mit der Aufschrift: „Die Grenzen verlaufen nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen oben und unten“ in deutsch und türkisch, in dessen Mitte das A im Kreis prangte. Die numerische Anzahl wurde allgemein als Erfolg bewertet. Auch wenn es Stimmen gab, die meinten, dass der Block nur so groß wurde, weil in ihm die meisten Bunthaarigen liefen.

Die FAU verteilte ein eigenes 6-seitiges Flugblatt unter dem Titel „Klassenkampf statt Sozialpartnerschaft“, in welchem sie auf die aktuelle wirtschaftliche Situation einging, die gewerkschaftliche, syndikalistische Arbeit in Kleinbetrieben zum Thema machte, sowie Analysen zur Situation der arbeitenden Frauen und Positionen zur Abschaffung des Patriarchat vertrat. Weitere Themen waren antifaschistische Überlegungen zur Situation am Arbeitsplatz und schließlich eine positive Bezugnahme zum in dieser Zeit viel diskutierten Existenzgeld. (Heute meistens als Grundeinkommen bezeichnet).

Vom Anarchistischen Plenum gab es ein eigenes Flugblatt, welches unter dem Motto „Mit dabei am 1. Mai – Widerstand statt Sozialpartnerschaft“ stand. In dem Aufruf, der von der ASJ (die sich kurz zuvor in Anarchistische-Syndikalistische Jugend umbenannt hatte), dem Schwarzen Aufbruch und der FAU (Stuttgart und Schorndorf) unterzeichnet war, wurden Gründe für die Teilnahme an den Mai-Demonstrationen angeführt und die anarchistischen Alternativen vorgestellt. „Warum soll Mensch am 1. Mai noch demonstrieren? Für die Bonzen des DGB scheint die (Arbeits-) Welt ja in Ordnung zu sein. Vielleicht liegt es auch daran, daß der 1. Mai in der Bundesrepublik mehr und mehr zum Zustimmungsritual zu den bestehenden Verhältnissen verflacht. Die Entmündigung am Arbeitsplatz hat sich auf der Straße fortgesetzt; viele Menschen sehen keinen Sinn mehr darin, an diesem Tag Widerstand zu zeigen. Für uns gibt es dennoch genug Gründe am 1. Mai zu demonstrieren. Was uns hier und viele andere auf der ganzen Welt auf die Straße treibt, ist das Bedürfnis, kein Rädchen in der großen Maschine zu sein, sondern frei von Ausbeutung und selbstbestimmt zu leben. Die Konzerne setzen längst auf internationaler Ebene ihre Interessen durch und tragen diese auf dem Rücken des einzelnen Menschen und verschiedener Bevölkerungsgruppen aus. Dabei werden sowohl international als auch in einzelnen Ländern die Menschen gegeneinander ausgespielt: Männer gegen Frauen, inländische gegen zugezogene ArbeiterInnen, jung gegen alt, Festangestellte gegen LeiharbeiterInnen. Die Ausbeutung ist heute nicht beendet, sondern sie verändert nur ihr Gesicht: Sozialabbau, Umschulung, Leiharbeit, Arbeitslosigkeit in den Industrieländern, Streikverbot, unmenschliche Arbeitsbedingungen, Massenverarmung in den Ländern der sogenannten 3. Welt. Zwei Seiten derselben Medaille.

Wir als Anarchistinnen und Anarchisten demonstrieren am 1. Mai nicht dafür, daß die kapitalistische Stechuhr gegen eine „sozialistische“ eingetauscht wird, sondern für die Abschaffung jeder Form fremd-bestimmter (Lohn-) Arbeit. Lohnarbeit reduziert den Menschen zu Material. Im Gegensatz dazu kämpfen wir für selbstbestimmtes Arbeiten und Leben in selbstverwalteten, von unten organisierten Strukturen, für eine an den Bedürfnissen der Menschen und nicht am Profit orientierte Produktion und für eine Gesellschaft, in der die Betroffenen alle Entscheidungen gemeinsam und solidarisch fällen. Dies kann z.B. in Form von Syndikaten – autonome gewerkschaftliche Zusammenschlüsse – erreicht und verwirklicht werden. Wenn wir uns effektiv gegen die herrschenden Verhältnisse zur Wehr setzen wollen, müssen und können wir gut auf die sozialpartnerschaftlichen und staatlichen Organisationen verzichten.“

Der Aufruf enthielt weiterhin einen Kastentext, der die Geschichte des 1. Mai in wenigen Worten zusammenfasste und warb für das anarchistische Fest am Vorabend desselben in Stuttgart-Rohr. Die Mobilisierungsmaterialen waren ausgesprochen vielfältig und präsent. Zur Werbung für Demo und Fest wurden über 8.000 Aufkleber produziert und im Stadtgebiet, sowie in den Gemeinden um Stuttgart verbreitet. Von den Flugblättern wurden ebenfalls mehrere tausend vervielfältigt und weit verbreitet. U.a. wurden sie systematisch in S-Bahnen verteilt.

Auf dem Bündnistreffen war vereinbart worden, dass der Redebeitrag der anarchistischen Gruppen – welcher sich dem Oberthema Entfremdung annahm – auf der Zwischenkundgebung am Karlsplatz gehalten werden würde. Dort angekommen, mussten wir erleben, wie wir gekonnt ausgebootet wurden. Als nach Redebeiträgen anderer Gruppen wir an die Reihe kommen sollten, sprang eine ehemalige politische Gefangene aus der RAF auf die Redebühne. Auf den Protest des Delegierten des Anarchistischen Plenums in der Demoleitung und weiterer GenossInnen, wurde diesen versichert, dass die Frau „nur 3 Minuten“ sprechen würde. Aus den 3 Minuten wurde über eine halbe Stunde. Schon die Redebeiträge vor ihr hatten sich in die Länge gezogen, sie waren zum Teil staubtrocken und die Demo-Teilnehmer davon genervt. Während die ehemalige Gefangene redete und redete, zogen Regenwolken am Himmel auf; und wir wurden darauf vertröstet, den Redebeitrag auf der Schlusskundgebung am Ostenendplatz zu halten. Dort angekommen, kamen zuerst die anderen Gruppen zu Wort. Das Wetter wurde immer ungemütlicher, und die ersten DemoteilnehmerInnen verließen den Kundgebungsplatz, um zurück in die Stadt, zur Kundgebung des DGB – oder gleich nach Hause zu gehen. Wer blieb, das waren die OrganisatorInnen, der Großteil des anarchistischen Blocks und nur wenige weitere DemonstrantInnen. Nachdem die anderen Gruppen ihre Beiträge beendet hatten, wollten wir nun unseren Redebeitrag halten. Doch bevor wir uns versahen, kam ein Delegierter der Autonomen Gruppe 1. Mai auf unseren Redner zu und forderte ihn auf, ob des Wetters und der geringen Teilnehmerzahl den Beitrag nicht zu halten. Dieses Ansinnen wurde abgelehnt und der Beitrag dennoch gehalten. Leider ging er im einsetzenden Regen unter.

Zuvor kam es aber noch zu einer kürzeren handfesten Auseinandersetzung. Als die Demonstration von der Neckarstrasse kommend die Kernerstrasse hochbog, hatten sich wenige Häuser hinter dem dort befindlichen türkischen Konsulat, vor einem türkischen „Kulturzentrum“ der Faschisten und Nationalisten mehrere von diesen auf dem Gehweg versammelt. Als der Block mit den türkischen und kurdischen Gruppen, immerhin einige hundert Personen stark, die selbe Höhe mit diesen erreichte, gingen die Faschisten zum Angriff über. Mit Steinen warfen sie auf die DemoteilnehmerInnen und brüllten faschistische Parolen. Im Bruchteil einer Sekunde lösten sich daraufhin einige dutzend Anhänger der kommunistischen Gruppen aus der Demo und gingen zum Gegenangriff über. Es kam zu körperlichen Auseinandersetzungen, bei denen die Faschisten einstecken mussten. Sie wurden schließlich handlungsunfähig in einen Hauseingang hineingedrängt und dieser von großen und schweren Müllcontainern versperrt. Die stark präsente Polizei verhielt sich beim Angriff der Faschisten zurückhaltend. Ging aber nun mit ihrer Reiterstaffel gegen die türkischen und kurdischen GenossInnen vor. Durch schnelles Kettenbilden wurden diese Angriffe abgewehrt. Der anarchistische Block, direkt hinter den Stalinisten laufend, bildete ebenfalls Ketten und machte sich bereit, den Angegriffenen zu Hilfe zu kommen. Doch so schnell die Reiter gekommen waren, so schnell waren sie auch wieder weg. Als der anarchistische Block kurz darauf an den eingeklemmten Faschisten vorbeizog, erschallten anti-faschistische Sprechchöre und Leuchtspur wurde gegen die faschistische Menge und das „Kulturzentrum“ abgefeuert.

Schon zuvor setzte die Polizei die Reiterstaffel gegen die Demonstranten ein. Auf dem Weg durch die Stadt versuchte der anarchistische Block einige Male auch die zweite Spur der Fahrbahn zu nutzen und über die gesamte Straßenbreite zu demonstrieren. Daraufhin kam es zu Angriffen der Polizei. Türkische kommunistische Parteien drohten daraufhin, die Demonstration zu verlassen, wenn der anarchistische Block dies nicht unterlassen würde.

In der kurz darauf folgenden anarchistischen Nachbesprechung der Demo am 16. Mai im besetzten Haus in der Schwabstrasse wurde dieser Vorfall ebenso thematisiert, wie die Sabotage des Redebeitrags. In der Besprechung wurde darauf hingewiesen, dass die Beiträge aller Gruppen auch ins türkische übersetzt wurden. Dies musste beim anarchistischen Beitrag nun zwangsläufig entfallen. Auch wurde der Alkoholkonsum einiger TeilnehmerInnen im anarchistischen Block kritisiert. Positiv hervorgehoben wurden nur die gute Funkverbindung zwischen den DemoordnerInnen und der Erfolg der Mobilisierung zu
einem eigenständigen Block, sowie der gesamten numerischen Anzahl der revolutionären Demo.

Am Vorabend des 1. Mai hatte im Rohrer Club das Anarchistische 1. Mai Fest stattgefunden. Wie angekündigt hatten sich die GenossInnen des Schwarzen Aufbruch nicht an ihm beteiligt, sondern feierten gemeinsam mit den Autonomen und Antiimps in der Neckarstrasse. Und auch hier klappte nicht alles so, wie es eigentlich sollte. Zwar war der Club mit 200 BesucherInnen gut gefüllt, und am Eingang waren gut bestückte Info- und Büchertische aufgebaut; doch aus versehen waren drei Musikgruppen, statt der geplanten zwei anwesend und spielten nun ununterbrochen nacheinander. Abgesehen von einem kurzen Redebeitrag der ASJ in einer Umbauphase, überwogen an diesem Abend die Musik und die Feierstimmung den politischen Inhalt. Es war dennoch ein gutes Fest; das Interesse am Büchertisch war groß, und die Bereitschaftspolizei samt Wasserwerfer, die wenige Gehminuten entfernt aufgefahren war, konnte sich den Hintern platt sitzen.

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