Die Stuttgarter Neonazi-Szene zu Beginn der 1990er Jahre (I)

Das Stuttgarter Stadtwappen.

In loser Reihenfolge möchten wir hier einen Überblick über die Neonazi-Szene in Stuttgart zu Beginn der 1990er Jahre geben. Aktive der ASJ waren ausgesprochene Kenner:innen der süddeutschen aber auch bundesweiten Nazi-Szene jener Zeit. Wir beginnen mit einem allgemeineren Lagebild und Überblick über Gegebenheiten und Ereignisse in Stuttgart zu dieser Zeit.

Neben den drei bekanntesten Parteien des deutschen Rechtsextremismus, der Deutschen Volksunion (DVU) der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) und der Republikaner (REP), existierte in Stuttgart und Umgebung eine Vielzahl weiterer Organisationen und Zirkel. Von der – von München aus geleiteten DVU – war nicht viel in der Öffentlichkeit zu sehen. Die Parteiaktivitäten bestanden zum Großteil aus internen Zusammenkünften in den Hinterzimmern verschiedener Gaststätten. Ihre Anziehungskraft erreichte sie durch die von ihrem Bundesvorsitzenden Gerhard Frey herausgegebenen Zeitungen: Deutsche Nationalzeitung, Deutscher Anzeiger, Deutsche Wochen-Zeitung. Frey, ein Multimillionär, vertrat und vertritt darin u.a. permanent eine Relativierung des Massenmordes an den Juden während des 3. Reiches. Seine Zeitschriften, die es an den meisten Kiosken zu kaufen gibt, sind für viele Jugendliche in westdeutschen Bundesländern der erste Kontakt zum organisierten Rechtsextremismus.

Einen erheblichen Einfluss übte dagegen die NPD aus. Ihr Bundes- und Landessitz befand sich in der Rötestrasse im Stuttgarter Westen. Bundesweite Treffen von Funktionären fanden hier genauso statt wie die Organisation der Parteitage. Ihr Landesvorsitzender zu dieser Zeit war der ehem. Polizist und nunmehrige Versicherungsvertreter Jürgen Schützinger aus Villingen-Schwenningen. Aus dem benachbarten Tuttlingen stammte ihr damaliger Bundesvorsitzender Martin Mußgnug. In Stuttgart und den umliegenden Landkreisen entfalteten die NPD und ihre Jugendorganisation, die Jungen Nationaldemokraten (JN), eine umfangreiche Aktivität. Angefangen von Infoständen oder Verteilaktionen von Flugblättern an S-Bahn-Stationen oder Bahnhöfen, bis zu öffentlichen Veranstaltungen in Stadthallen und Grillabenden. Kam es zu Angriffen auf Ausländer oder AntifaschistInnen, waren oftmals Mitglieder der NPD daran beteiligt.

Das Neckarstadion zu Beginn der 1990er Jahre. Der A-Block befand sich auf dem Bild hinten links neben der Überdachung.

Und auch im A-Block des Neckarstadions (heute Gottlieb-Daimler Stadion) befand sich unter den organisierten und lautstarken Fans des VfB Stuttgart eine Vielzahl ihrer Anhänger. Hier wurde agitiert, und es war keine Seltenheit, aus dem „Fanblock“ Sprechchöre wie „Deutschland den Deutschen – Ausländer raus“ zu hören. Nach den Landtagswahlen von 1988 sang ein großer Teil des A-Blocks „NPD – 2,1 Prozent“ und feierte das Ergebnis. Vereinsvorsitzender des VfB war zu dieser Zeit der Baden-Württembergische Kultusminister Gerhard Mayer-Vorfelder. Ein nationalistischer CDU-Politiker, der Anfang der 80er Jahre durchgesetzt hatte, dass die Schülerinnen und Schüler in Baden-Württemberg alle drei Strophen der Nationalhymne zu lernen haben. Erst mit dem Aufkommen antifaschistischer Initiativen in den Fußballstadien gelang es auch in Stuttgart, den Einfluss der NPD zurückzudrängen. Bis heute sind Baden-Württemberg und Bayern die Bundesländer, in welchen die rechtsextremen Republikaner ihre größten Erfolge erzielen konnten und die stärkste Verankerung haben. Den REP´s gelang bei den Landtagswahlen am 05. April 1992 der Einzug in den Stuttgarter Landtag mit 10,9% der Stimmen. Die 1983 gegründete Partei verfügte von Anfang an über größere finanzielle Mittel, welche ihr umfassende Propagandatätigkeiten ermöglichen. Bundesvorsitzender war bis Anfang der 90er Jahre der ehemalige Rundfunk-Journalist des Bayerischen Rundfunks, Franz Schönhuber. Nach internen Auseinandersetzungen wurde er vom Stuttgarter Arzt Rolf Schlierer beerbt. Veranstaltungen, der stets um ein gut-bürgerliches Image bemühten REP´s waren zu Beginn der 90er Jahre zahlreich. Das Aufkommen dieser, von einigen AntifaschistInnen als Vertreter eines „modernen populistischen Rechtsextremismus“ bezeichneten Partei, führte zur deutlichen Zunahme antifaschistischer Aktivitäten. Besonders Jugendliche begannen, sich antifaschistisch zu engagieren. Gegenaktionen zu den öffentlichen Auftritten der REP´s waren zahlreich. Vielfach setzten die REP´s zum „Schutz“ ihrer Veranstaltungen Nazi-Skins ein.

Doch nicht nur DVU, NPD und die REP´s erforderten unsere Aufmerksamkeit. Versuchten diese drei Parteien über Wahlerfolge an die Macht zu gelangen, so handelte es sich bei den reinen Neonazi-Gruppen um ideologisch überzeugte Aktivisten, denen die Gewalt gegen Andersdenkende und Ausländer und auch der Mord das Mittel zum Erfolg war. Sie verstanden sich als „politische Soldaten“. Je nach ideologischer Ausrichtung entweder nach dem verbrecherischen Vorbild der SA oder der SS. Diese gewalttätigen Neonazi-Gruppen schossen zu Beginn der 90er Jahre nahezu flächendeckend wie Pilze aus dem Boden. Und sie machten aus ihrer Gesinnung keinen Hehl. „Deutschland, Deutschland über alles“ prangte als Aufnäher an den meisten ihrer grünen Bomberjackenärmel. Sie verübten Angriffe auf alles und jeden, der nicht in ihr Weltbild passte. Eine menschenverachtende neonazistische Welle brauste durch die Republik. Und sie musste gestoppt werden. Und zwar schnell, hart und unnachgiebig.

Verfasst 2009

Hinterlasse einen Kommentar